Der Kreuzgang

Teaser_Kreuzgang
Kreuzgang des Freiberger Domes (Foto: S. Münster, 2014)
Der Kreuzgang gehört zu den „Stiefkindern“ des Freiberger Doms. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts errichtet, drohte bereits im folgenden Jahrhundert der Verfall, später sogar der Abriss. Dabei erzählt die Anlage die zentrale Geschichte des Christentums: den Leidensweg Jesu. Der Kreuzgang ist ein Spiegel der Passionserzählung, auch wenn er durch die Jahrhunderte matt geworden ist.

 

Text: C. Meyer
Fotos: S. Münster, K. Wieczorek
Visualisierungen: S. Münster, C. Kröber, P. Sevlik, G. Braun

 

Gliederung

1. Baugeschichte, Funktion und Nutzung
2. Vom Heumagazin bis zur Grabmahlstätte
3. Kreuzgang-Architektur als Erzählung der Passion Christi
4. Leiden durch Länge
5. Mariensymbolik

1. Baugeschichte, Funktion und Nutzung

Mit dem Neubau des Domes nach dem Stadtbrand im Jahr 1484 wurde auch der Kreuzgang errichtet. Genaue Daten sind nicht bekannt, im Ostportal des Ganges ist jedoch die Jahreszahl 1509 zu sehen. Der Gang verläuft von der 1510 errichteten Annenkapelle in den Westflügel durch die Taufkapelle (auch: Schönlebsche Kapelle) in den Südflügel. Dort mündete er in die Goldene Pforte. Der Kreuzgang samt Annenkapelle umschließt somit einen Großteil des Grünen Friedhofs. Sein Grundriss ist ungewöhnlich, als er die Fluchten der umliegenden Gassen aufgreift und nicht – wie bei Kloster- und Stiftskirchen üblich – quadratisch oder rechteckig von Klausurgebäuden umschlossen wird.

Draufsicht Kreuzgang
Visualisierung einer Draufsicht auf den Kreuzgang (Modell: C. Kröber / P. Sevlik, 2014)

Über die konkreten Funktionen des Freiberger Kreuzganges existieren keine gesicherten Informationen. In mittelalterlichen Klosteranlagen, die es am Freiberger Dom selbst nicht gab, diente ein Kreuzgang in der Regel verschiedensten Alltagshandlungen der Klosterbewohner wie Wäschewaschen oder Haareschneiden. Er hatte aber auch liturgische Funktion und wurde unter anderem als Weg bei feierlichen Prozessionen genutzt oder auch von Geistlichen abgeschritten, um Texte laut zu lesen (meditatio).

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2. Vom Heumagazin bis zur Grabmalstätte

Mit dem Einzug der Reformation in Freiberg (1537) wurde das Kollegiatstift aufgelöst – wahrscheinlich verlor der Kreuzgang seine ursprüngliche Funktion, ähnlich dem Chorraum des Domes. Aufgrund mangelnder Nachnutzung war er vom Verfall bedroht. Um dies zu verhindern, beschlossen 1622 angesehene Freiberger Familien, im Kreuzgang Erbbegräbnisstätten einzurichten. Während der Befreiungskriege wurde der Kreuzgang 1813 als Heumagazin genutzt. 1818 und 1837 folgten Reparaturarbeiten, in deren Zuge viele Grüfte zugeschüttet wurden. Die letzte Bestattung im Kreuzgang fand wahrscheinlich im Jahr 1817 statt. 1861 wurden die Vorhalle der Annenkapelle sowie der Ostflügel des Ganges abgerissen.

Der untergeordnete Stellenwert des Kreuzganges im Laufe der Domgeschichte spiegelt sich nicht zuletzt darin wider, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mehrfach überlegt wurde, ihn abzureißen. Dies konnte durch den Freiberger Altertumsverein verhindert werden, der den Gang einige Jahre als Museum verwendete. Ab 1890 wurden im Westflügel Grabmale der Familie Schönberg untergebracht. 2012 wurde mit der Sanierung begonnen.

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3. Kreuzgang-Architektur als Erzählung der Passion Christi

Im Sinne einer liturgischen Funktion als Prozessionsweg lässt sich der gewölbte Gang ‒ wie kaum ein anderer Abschnitt des Doms ‒ als eine linear gestaltete Erzählung betrachten und erleben: als Leidensgeschichte Jesu. In Anlehnung an den Kreuzweg, der Via Dolorosa in Jerusalem, kann der Betende den Raum andächtig durchschreiten und sich in einen Vorstellungsraum hineinversetzen. Interessant sind dabei die Gestaltungen der Gewölbe. Jede Form erzeugt dabei eine bestimmte Dynamik und Wirkung: Der Blick des Betrachters bleibt fortwährend in Bewegung und führt in die Tiefe des Raumes hinein.

Blickführung
Visualisierung des Kreuzganges (Modell: S. Münster, 2014))

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4. Leiden durch Länge

Länge und Form des Kreuzgangs korrespondieren mit einem Prätext: der biblischen Passionsgeschichte. Vor dem Hintergrund des Leidensweges fungiert der Raum als eine Erzählstruktur, der eine Wirkung beim Betrachter auslöst. Der Kreuzweg Jesu kann (zum Beispiel betend) abgeschritten und dabei nacherlebt bzw. nachempfunden werden (imitatio). Die Gangabschnitte, die Hauptrippenstruktur sowie die sich wiederholenden Muster erzeugen eine gefühlte Länge, die die wirkliche (messbare) Länge des Kreuzganges auf einer zweiten Wahrnehmungsebene überlagert und dehnt.

Das Gewölbemuster unterstützt folglich den meditativen Akt, indem es die erzählte Zeit einer Geschichte (Leidensweg Jesu) durch den 'langgestreckten' Blick des Betenden und die permanente Wiederholung der Formen dem tatsächlichen Abschreiten der Via Dolorosa 'angleicht'. Es entsteht somit eine emotionale Realität, die für einen andächtigen Prozessionsgänger der Ausgangspunkt meditativer Versenkung sein kann.

Rippenstruktur
Visualisierung der Rippenmuster im Kreuzgang (Modell: S. Münster, 2014))

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5. Mariensymbolik

Maria spielt als Namenspatronin eine wichtige Rolle im Dom. Dies gilt auch für den Kreuzgang. Bereits der Ausgangspunkt, die Annenkapelle, ist der Mutter Mariens geweiht und eröffnet den Reigen der Marienbezüge. Im weiteren Verlauf erscheint die dezent gehaltene florale Bemalung der Kreuzgangskapelle auf den Grünen Friedhof, der vom Kreuzgang umfangen wird.

Kreuzgang_Bemalung
Bemalung des Kreuzgangs (Foto: S. Münster, 2014)

Das Bild des umschlossenen Gartens (Hortus conclusus) ist ein beliebtes Motiv in Mariendarstellungen der Bildenden Kunst und in der Literatur der frühen Neuzeit. Er steht sinnbildlich für die schwangere Jungfrau Maria und geht zurück auf eine Stelle im Hohelied. Dort heißt es:

„Ein verschlossener Garten ist meine Schwester Braut, ein verschlossener Garten, ein versiegelter Quell.“ (Hohelied 4,12))

Ein weiteres Mariensymbol ist die dornenlose Rose, auf die die Blüten in den Schlusssteinen des Südflügels hindeuten.

Schlussstein - Rose
Schlussstein in Form einer Rose (Foto: K. Wieczorek, 2014)

Markant ist ein formaler Bruch im Gewölbe am Ende des westlichen Flügels vor dem Eintritt in die Kreuzgangkapelle. Obwohl keine statische Notwendigkeit besteht, wird der Kreuzverlauf hier durch einen Bogen hart unterbrochen. Auch schließen die beiden kreuzenden Rippen davor bzw. danach nicht unmittelbar aneinander an, sondern stehen leicht versetzt und erzeugen dadurch eine optische Verzerrung. Dieser bewusste Akt der Unterbrechung im Gewölbe – gleich einem Anakoluth (grammatikalischer Bruch) in einem Satz – geht einher mit dem Eintritt in den neuen Raum, der sich auch durch veränderte Lichtverhältnisse auszeichnet.

Anomalie
Rippenanomalie (Foto: S. Münster, 2014)

In Anlehnung an die Via Dolorosa finden sich in den meisten katholischen Kirchen Kreuzwegstationen (meist 14, mitunter auch 7), die von Gläubigen andächtig und oft auch mit Textvorlagen beschritten werden. Es ist durchaus möglich, dass in unauffälliger Form solche Stationen auch im Freiberger Kreuzgang vorhanden waren. Der Übergang  vom Westflügel in die Kreuzgangkapelle, die mit dem oben erwähnten Bruch im Gewölbe eingeleitet wird, könnte eine Anspielung auf die dritte Station des Kreuzweges sein, als Jesus das erste Mal unter der Last des Kreuzes fällt. Auch die vierte Station, bei der Jesus seiner Mutter Maria begegnet, scheint durch die doppelte Stützenstellung in der Kapelle präsent. Diese Bezüge, die als Erinnerungen begriffen werden können, unterbrechen dabei die durchlaufende Zeitstruktur des Ganges, was sich auch in einer veränderten Gewölbestruktur spiegelt. Die Netzgewölbe der Kapelle schließen dabei sowohl die Joche und die darin zusammengefassten Betrachter zu einer Raum- und Zeiteinheit zusammen und unterstützen zugleich durch ihre zentrierende Form auch die Konzentration der Betrachter an ihren jeweiligen Standorten.

Taufkapelle
Visualisierung der Kreuzgangkapelle (Modell: S. Münster, 2014)

Im Südflügel wird die Figuration des Westflügels wieder aufgenommen. Die Kreuzgangkapelle ist in gewisser Hinsicht auch eine Rückblende: Die Schmerzen Jesu sind genauso gegenwärtig wie die seiner Mutter Maria – sei es bei seiner Geburt oder als Zeugin seines Leidensganges. Mit ihrem Leiden, so schrieb im 12. Jahrhundert der Benediktinermönch Arnold von Bonneval, habe Maria an Gottes Erlösungswerk mitgewirkt.

Im Osten schloss der Kreuzgang an die Goldene Pforte an. Zentral herausgestellt ist im Bogenfeld die Anbetung der Könige. Sie beten hier aber nicht den Neugeborenen, sondern Christus als präsentierten Erlöser an: Maria ist schon gekrönt, präsentiert den Gottessohn wie auf einem Altar und erscheint einerseits als Träger, Ziel und Endpunkt der biblischen Erzählung und des göttlichen Gnadenaktes. Durch die Verknüpfung von Anfang und Ende, von Anbetung und Präsentation leitet andererseits dieses Marienbild auch zur letzten Station der Passion über. Im Innern, im Triumphbogen stehen Maria und Johannes unter dem gekreuzigten Christus. Hier finden das Leiden Christi und das Mitleiden der Betenden ihr Ende.

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