Der Lettner

Lettner_Teaser
Rekonstruktion des Lettners im Vorgängerbau (Modell: C. Kröber / C. Schönfelder / L. Eichler, 2014)
Der Dom erschließt sich dem Betrachter wie eine Erzählung, die verschiedene Fäden vorgibt. Chronologisch aufeinanderfolgend, aber auch vertikal und longitudinal lassen sich die einzelnen Erzählstränge verfolgen. Nimmt man die Goldene Pforte als Prolog der erzählenden Architektur, schließt sich daran das Langhaus als Hauptkapitel an. Das Ende bildet der Lettner. Jede dieser Stationen erzählt eine Geschichte, die durch Formen, Figuren und Architektur animiert wird. Im Zentrum stehen die Heilsgeschichte und die Patronin der Kirche, die Jungfrau Maria. Die Architektur des Domes wird zur Sprache, indem sie den Betrachter zur heilsgeschichtlichen Entdeckung des Domes anleitet.

 

Text: K. Arzybaeva
Fotos: K. Wieczorek
Visualisierungen: C. Kröber, C. Schönfelder, L. Eichler

 

Gliederung

1. Fakten
2. Vierfacher Schriftsinn
3. Dreidimensionale Raumanordnung
4. Räumliche Wirkung
5. Bildprogramm
6. Literatur

1. Fakten

Die Erzählung(en) um den Lettner umfassen historisch betrachtet die Zeit zwischen ca. 1190 und 1480 und gründen auf dem romanischen Vorgängerbau. Die Positionierung des Lettners im Osten, wo die Sonne aufgeht, symbolisiert die Auferstehung Jesu. Die Einrichtung über der Krypta vor dem Altar zieht die Trennung zwischen Geistlichen und Laien nach sich. Folglich nahm das Volk die Rolle des Zuschauers ein und setzte sich mit der meditativen und imaginativen Kraft der Lettnerschauwand auseinander.

Der Lettner bietet dem Betrachter mit Bildwerken zur biblischen Geschichten des Alten und Neuen Testaments ein zweistufiges Programm der Heilsgeschichte. Die Errichtung des Lettners geht auf den romanischen Vorgängerbau zurück. Inwiefern durch die Erhebung der Kirche zum Kollegiatstift um 1480 und den gotischen Umbau der Lettner sofort an Bedeutung verlor, ist ungewiss. Spätestens dem ab 1484 gefassten Plan, das Langhaus mit einer umlaufenden Empore auszustatten, stand der Lettner im Wege.

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2. Vierfacher Schriftsinn

Die Bedeutung des Lettners ist, folgt man der mittelalterlichen Auslegungstradition, über vier Sinnebenen zu erschließen: a) wörtlich-geschichtlich, b) typologisch, c) dogmatisch-theologisch und d) endzeitlich-eschatologisch.
1. Sinnebene: Der Lettner ist der Ort, von dem aus die Heilige Schrift verkündet wird.
2. Sinnebene: Der Lettner erinnert an die Grabeskirche in Jerusalem, Sie ist die Parallele zum Felsen Golgatha zu Jerusalem, wo aus der Schrift gelesen und Totenmessen gehalten wurden. Der Lettnereingang ist mit Treppen ausgestattet. Dies ruft die Besteigung des Golgatha-Felsens und die Erinnerung an den Opfertod Christi am Kreuz auf.
3. Sinnebene: Der Lettner ist der Ort, von dem aus man in das Reich des Friedens und der Gerechtigkeit gelangt.
4. Sinnebene: Der Lettner repräsentiert den Thron des Wortes und den Ort des Heils.[1]

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3. Dreidimensionale Raumanordnung

Die Erzählungen des Lettners lassen sich in drei Richtungen – longitudinal, vertikal, chronologisch – verfolgen. Die vertikale Ebene erschließt sich durch das Betreten der Treppen, Beschreiten des Raumes und das meditative Wahrnehmen der sichtlichen Raumordnung: Beispielsweise wenn der Liturg als geweihte Person den höheren Stand einnimmt, um das Wort zu verkünden. Die chronologische Zeitabfolge bezieht sich auf den Lebens- und Leidensweg Jesu, von der Verkündung seines Kommens, seiner Menschwerdung als Teil der Welt, seinem Opfertod sichtbar in der Triumphkreuzgruppe bis zu seiner triumphalen Auferstehung. Die horizontale Ebene lässt sich als soziale Anordnung verstehen: im Langhaus der Raum der Getauften, im Chor der Raum der geweihten Priester und der Lettner als Grenze.

Die Ordnung des Lettners und des anschließenden Chorraums ist wie folgt zu lesen: Auf der untersten Stufe stehen die Gläubigen. Ihr Glaube an die Erlösung und das ewige Leben wird durch das Hören der Predigten gefestigt. Sie werden vom Chor und Chorgebet ausgegrenzt. Diese vertikale Achse setzt sich im Chor zum Altar hin fort, mündet in eine wiederum vertikale Linie ein, die von den geweihten Klerikern als Gemeinschaft der Geistlichen ausgehend über die Heiligen und heilsgeschichtlichen Stufen sich Gott, dem Himmel und Heil zuwenden. Auf der nächsten Stufe, im Chorraum erfolgt die Auslegung des Evangeliums und die Lobpreisung Jesu. Dort ist man schon Gott und dem Heil näher. Noch näher ist jener, der unmittelbar am Altarsakrament teilnehmen darf. Die nächste Stufe vertreten die Heiligen aus dem Alten Testament (Johannes der Täufer, die Prophetin Sybille, Moses auf der Brüstungsplatte des Lettners) und die Heiligen, die einst den Altarschrein im Chorhaupt bevölkerten. Sie ebnen den Weg zum Heil und läuten die Annäherung an Gott unmittelbar ein. Durch die Prophezeiungen und die alttestamentlichen Vorbereitungen auf die Ankunft Jesu gelangt man schließlich auf die höchste Stufe. Hier sind die Hoffnungen auf den Sieg über den Tod erfüllt und Sünden durch Jesu Leiden am Kreuz vergolten.

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4. Räumliche Wirkung

Durch die Goldene Pforte, die im romanischen Vorgängerbau noch als Westportal fungierte, gelangte man ins Langhaus. Hier wurde der Blick auf Christus am Kreuz gelenkt. Das Kreuz schien triumphierend über dem Lettner zu schweben. Schritt für Schritt konnte sich der Betrachter dem Lettner von Aposteln und Jungfrauen begleitet nähern. Hinter dem Lettner befand sich der Chor, zu dem die Gemeinde keinen Zugang hatte. Aber die Ausgestaltung und Organisation der Lettnerschauwand bot ein interessantes Programm, das es den Gläubigen ermöglichte, sich das Heilsgeschehen meditativ zu vergegenwärtigen, das heißt, den Raum himmlischen Heils zumindest im Innern zu erreichen, um so der heilsgeschichtlichen Verheißung teilhaftig zu werden.

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5. Bildprogramm

Die Erzählungen der Schauwand vermitteln dem Laien die Heilsgeschichte, ermöglichen ihm rezeptive Teilnahme, Mitleiden an der Passion Jesu und Freude über seinen Sieg. Wahrscheinlich war die Lettnerschauwand zweistufig aufgebaut. Auf der unteren Ebene befand sich eine überwölbte Eingangstür, die sich analeptisch auf den Bogen der Goldenen Pforte bezog. Sie war von beiden Seiten mit etwas niedrigeren Arkadendurchgängen umgeben, jeweils mit Tympana ausgestattet.

Reko Lettner_ nach Magirius
Rekonstruktion der Lettnerschauwand, um 1225; nach Magirius 2013, S. 11

Der Altar vor dem Lettner war auf das Langhaus und die dortige Gemeinde ausgerichtet. Rechterhand auf dem Tympanon war der Erzengel Gabriel, der 'die Macht Gottes' und 'die Kraft Gottes' innehat, abgebildet. Er verkündigte Maria die Geburt des Erlösers. Diese Botschaft steht am Beginn der neutestamentlichen Geschichte. Gabriel wird mit einer weißen Lilie als Symbol der Jungfräulichkeit, Reinheit und Spiritualität dargestellt. Diese Symbolik ist wiederum auf Maria als Verkörperung der christlichen Kirche bezogen.

Tympanon mit Erzengel Gabriel
Tympanon mit dem Erzengel Gabriel (Foto: K. Wieczorek, 2014)

Chronologisch auf der gleichen Zeitstufe setzt auch das zweite Tympanon mit dem Erzengel Michael, dem mächtigste Erzengel („Wer ist wie Gott“) ein. Er schützt die Seelen der Verstorbenen und führt sie ins Himmelreich. Die Waagschalen, die er auf beiden Händen hält, stehen für die Abwägung der Sünden und das Urteil über die Schuldigen, folglich für die Wahrheitsfindung und die Rechtsprechung.

Tympanon mit Erzengel Michael
Tympanon mit dem Erzengel Michael (Foto: K. Wieczorek, 2014)

Über den Seiteneingängen sind auf der gleichen Höhe jeweils zwei Figurenplatten – von ursprünglich insgesamt vier – angebracht. Zwei der Tafeln mit Darstellungen der Prophetin Sybille und eines weiteren Propheten sowie die Tympana mit den Erzengeln Gabriel und Michael, die Kanzelbrüstung mit dem Motiv der Erhöhung der ehernen Schlange und eine Figurenplatte mit Johannes dem Täufer und einem Heiligen wurden während der Restaurierung in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts aufgefunden. Mit der hier dargestellten Prophetin ist wahrscheinlich die Sybille von Cumae gemeint. Sie ist eine der zehn Sibyllen aus der antiken Mythologie. Nach der vierten Ecloge aus Vergils Bucolica hat sie das Erscheinen des Erlösers vorhergesagt. Auch die zweite Prophetenfigur deutet auf die Prophezeiung der Heilsgeschichte und die Erlösung hin.

Sybille
Prophetin Sybille (Foto: K. Wieczorek, 2014)


Über den mittleren Bogeneingang des Lettners sind die zwei Kanzelbrüstungsplatten zu positionieren. Die eine erzählt die Geschichte von der Erhöhung der ehernen Schlange aus dem Alten Testament. Mose hatte auf Anweisung Gottes die eherne Schlange auf dem Stab zur Heilung erhöht: „Und wie Mose in der Wüste die Schlange erhöhte, also muß des Menschen Sohn erhöht werden, auf daß jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren gehe, sondern ewiges Leben habe.“ (Joh 3,14-15) Dies korrespondiert mit der Kreuzigung Jesu. Der Blick auf den Gekreuzigten lässt den Betrachter an Erlösung und Auferstehung Jesu teilhaben.

Tympanon mit Erzengel Michael
Platte mit Moses und Erhöhung der ehernen Schlange (Foto: K. Wieczorek, 2014)

Die zweite Stufe der Lettnerschauwand ist mit einem großen Bogen ausgestattet, in dem die Triumphkreuzgruppe steht. Die erhobene Position des gekreuzigten Christus, begleitet von Maria und Johannes dem Täufer, bildet den Abschluss des Bildprogramms. Es scheint, als schwebe Christus über dem Betrachter und würde den Aufblickenden umarmen. Der erlöste Gesichtsausdruck Jesu strahlt Frieden und Ruhe aus und lässt den Betrachter an den Sieg über den Tod glauben. Die Jungfrau Maria steht auf einer Schlange, die sie besiegt hat. Auf der rechten Seite steht Johannes der Täufer auf einem Biest, das unter seinen Füßen als Zeichen der Unterwerfung liegt. Die Mimik der Kreuzigungsgruppe wirkt im Ganzen beruhigend.

Triumpfkreuzgruppe
Triumphkreuzgruppe (Foto: K. Wieczorek 2014)

Die Tympana, der große Bogen über der Triumphkreuzgruppe und die runden Enden der Platten mit den Figuren schließen sich analeptisch an das Tympanon und die Archivolten der Goldenen Pforte an. Die langen Säulen, die vom Boden bis über die Hälfte der Kreuzigungsgruppe gezogen sind und die kürzeren, die bis auf die zweite Stufe ragen, deuten auf die zerdehnte Kommunikation der Heilsgeschichte. Sie stehen auch für die Erhebung der Menschheit über den Tod, das Bestreben zum siegreichen Kreuz und den Aufstieg in das Himmelreich.

Rekonstruktion Lettner
Rekonstruktion des Lettners (Modell: C. Kröber / C. Schönfelder / L. Eichler, 2014)

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[1] Vgl. Schrörs, Der Lettner im Dom zu Münster, S. 61-75.

6. Literatur

  • Tobias Schrörs, Der Lettner im Dom zu Münster: Geschichte und liturgische Funktion. In: Forschungen zur Volkskunde, Heft 50, 2005, S. 61-75. 
  • Karl Schuster, Der Lettner im Freiburger Münster, in: Freiburger Münsterblätter, Freiburg 1905, S. 45-62.
  • Monika Schmelzer, Der mittelalterliche Lettner im deutschsprachigen Raum, in: Typologie und Funktion (= Studien zur internationalen Architektur- und Kunstgeschichte 33), Petersberg 2005, S. 208.
  • Clemens Kosch, Kölns romanische Kirchen. Architektur und Liturgie im Hochmittelalter,  Regensburg 2000.
  • Klaus Gereon Beuckers/Elisabeth den Hartog (Hg.), Kirche und Kloster, Architektur und Liturgie im Mittelalter. Festschrift für Klemens Kosch zum 65.Geburtstag, Regensburg 2012.
  • Manfred Hübner, Dom und Domviertel Freiberg/Sachsen, Rostock 2005.
  • Heinrich Magirius, Der Freiberger Dom, Lindenberg i. Allgäu 2013.

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