Die Goldene Pforte
Text: C. Menzer, S. Scheller-Heß
Fotos: C. Menzer
Visualisierungen: R. Hinkefuß, S. Grundmann, W. Gierlich, M. Rahden, M. Wachsmuth, B. Ebermann, M. Leonhardt, M. Kallauke, F. Knacker, J. Maisel
Gliederung
1. Figuren erzählen
2. Vom Bild zum Raum
3. Literatur
1. Figuren erzählen
Die Figuren des Portals rufen Geschichten aus dem Alten und Neuen Testament auf. Sie verheißen, was den Betrachter im Inneren erwartet – der Ausblick auf das Heil, auf Erlösung. Staccatoartig und rasch aufeinanderfolgend verkünden die Gewändefiguren ihre Botschaft und verstärken durch ihr wiederholendes Erscheinen ihre Aussage. Dies regt zur vollen Konzentration und zur meditativen Versenkung in die Heilsgeschichte an.
Die Gewändefiguren sind zwischen die Säulen in nischenartigen Kehlungen eingelassen und werden oben und unten von verschiedenen Tier- und Menschenköpfen eingefasst. Auf diese Weise stehen die Figuren in einem jeweils eigenen Raum und bilden im Ganzen eine Aussage. Links sind von außen nach innen dargestellt: der Prophet Daniel, die Königin von Saba, König Salomo und Johannes der Täufer. Auf der rechten Seite stehen: Aaron, Bathseba, König David und vermutlich der Evangelist Johannes.
Daniel und Aaron korrespondieren als Verkünder der Jungfräulichkeit Mariens miteinander.
Mit der Königin von Saba und Salomo und mit Bathseba und David stehen sich zwei Königspaare gegenüber, die vorbildhaft für die Hochzeit Christi mit seiner Kirche stehen und gleichzeitig Vorfahren des Messias sind.
Repetitiv und in hoher Frequenz liefern sie Hinweise für das Kommen des Erlösers. Diese sechs Figuren des Alten Testaments gelten als Vorboten des christlichen Heils. Dagegen gehören die beiden inneren Gestalten zum Neuen Testament und sind durch Namensgleichheit miteinander verbunden. Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist treten als unmittelbare Zeugen Christi auf und stehen deshalb dem Tympanon mit der Erscheinung des Gottessohnes am nächsten.
Mit Salomo, David, Johannes dem Täufer und dem Evangelisten Johannes sind in das Gewände Figuren eingelassen, die Vorfahren oder nähere Verwandte Marias und des Messias sind. Wenn nun im Mittelalter der Fürst bei seinem Einzug in die Kirche das Portal durchschritt, so gaben ihm die vorbildlichen Herrscher des Alten Testaments nicht nur ihr Geleit: Beim Hindurchgehen konnte sich der Fürst in die Nachfolge der biblischen Könige stellen.
Im Tympanon thront die Gottesmutter Maria, der die Kirche geweiht ist und auf die die Bilderzählung der Pforte zuläuft.
Sie hält den drei anbetenden Königen ihren Sohn entgegen. Sie präsentiert aber auch dem Betrachter ihren Sohn, so wie ein Priester am Altar der Gemeinde die Hostie zur Schau stellt. Maria steht als Ecclesia, als Verkörperung des Christentums, für die Verbindung Christi mit seiner Kirche. Diese Aussage wird im Langhaus mit der Darstellung der klugen Jungfrauen, die ihren Bräutigam erwarten, wiederholt. Wer die Pforte passiert, tritt in den hortus conclusus, den umschlossenen Garten Mariens, der auf die unbefleckte Empfängnis verweist.
Die innerste Archivolte zeigt die Marienkrönung. Ein Engel trägt das Buch des Lebens in seinen Händen. Zwei Stellen sind nicht mehr wie ursprünglich mit Engeln besetzt, sie fehlen in der Engelschar. In der zweiten Archivolte übergibt ein fliegender Engel eine Seele in den rettenden Schoß Abrahams. Im Zentrum der dritten Archivolte steht die Taube des Heiligen Geistes. Sie wird von heranfliegenden Engeln verehrt und ist die Schlüsselfigur des Kollegiums der Apostel. Diese sind in dieser und der vorhergehenden Archivolte dargestellt. Die äußere Archivolte zeigt schließlich Menschen, die aus ihren Gräbern auferstehen. Sie bewegen sich von unten nach oben auf den Engel zu, der sie an sich zieht, um sie zu retten.
Die an dieser Stelle zu erwartende Gegenüberstellung von Erlösten und Verdammten fehlt. Damit ist das Portal im Ganzen auf die Erlösung ausgerichtet; der Gedanke des Gerichts scheint hingegen zurückgedrängt. Wenn Abt Ludeger von Altzelle (gest. 1234), wie zuweilen vermutet wird, tatsächlich mit dem geistigen Programm der Goldenen Pforte in Verbindung steht, dann ist eine Parallele zu seiner theologischen Auffassung unübersehbar. Ludeger war um 1225 Abt des Zisterzienserklosters Altzelle und hatte das Patronat über alle Freiberger Kirchen inne. Im Zentrum seiner Theologie standen Heil und Rettung des Menschen.
2. Vom Bild zum Raum
Wer der Goldenen Pforte gegenübersteht, kann alle Elemente des Portals auf einer Ebene, simultan, und das Bauwerk somit als Bild wahrnehmen. Es fungiert als Anschauungsraum, in dem das Sehen oberste Priorität besitzt. In welcher Reihenfolge die einzelnen Elemente des Bildes gelesen werden, ist durch die Linienführung der architektonischen Formen vorgegeben. So werden etwa die Archivolten von den Gewändesäulen durch kräftige Kämpfergesimse getrennt, stehen aber dennoch mit ihnen in Verbindung, da die Ornamentierung der Säulen in den Archivolten weitergeführt wird. So erscheint die Aussage der Archivolten zugleich eigenständig als auch mit jener der Gewändezone verbunden.
Durch die spiralförmig angeordneten Archivolten wird der Besucher schließlich dazu angeregt, seine Betrachterposition zu verlassen, die Stufen hinaufzusteigen, durch die Pforte hindurchzugehen und in das Innere der Kirche einzutreten. Die Sogwirkung des Portals wird durch die gleiche Höhe von Gewände- und Archivoltenzone erzeugt. Ihnen liegt die Figur des Kreises, der symbolisch für die gesamte Schöpfung steht, zugrunde. Sein Mittelpunkt befindet sich direkt unterhalb des Tympanons und unterstreicht damit das Gewicht des darin Dargestellten.
Neben dem Staccato der Stufen und dem gestuften Gewände leiten nicht zuletzt die beiden Portallöwen den Besucher dazu an, sich nicht wieder abzuwenden, sondern dem Verlauf der Treppe bis zur Tür zu folgen. Bewegt sich der Betrachter nun auf das Portal zu, verändert sich sein Sehwinkel, das Bild öffnet sich, umfängt den Betrachter und wird zum Raum, durch den er hindurchschreiten kann. Das Portal fungiert aus dieser Perspektive als Aktionsraum, der zum Ausführen von Handlungen animiert und in dem Bewegung vollzogen werden soll.
Wer das Portal passiert, durchläuft eine Prolepse, einen Vorgriff auf die Erzählung des Kirchenraumes und wird auf diese Weise auf das ihn hinter der Pforte Erwartende eingestimmt. Denn im Langhaus begegnen dem Besucher die Erzählelemente der Pforte räumlich aufgespannt erneut – und so könnte vermutet werden, dass die besondere Gestalt des Langhauses auch durch die Erzählstruktur der Goldenen Marienpforte geformt wurde. Sie gleicht mit ihrer hohen Dichte an Formen und Figuren einem Gedicht, mit eigener Lyrik, hoher Prägnanz und Stimulanz, während das Langhaus das im Portal Zusammengefasste räumlich-episch entfaltet. Die Bewegung des Betrachters zieht die Erzählung in die Länge; der Raum ordnet Kapitel an Kapitel und steuert trotz einiger Nebenhandlungen auf ein dramaturgisches Ende hin. Stärker als beim Portal wird die Heilsgeschichte im Langhaus körperlich durchlebt.
Die zehn Säulen des Portals finden sich in gleicher Anzahl im Kirchenschiff wieder.
Sie sind Träger der Konstruktion und, deutet man sie als Apostel, fungieren sie im Innenraum der Kirche als Vermittler der guten Botschaft, die von der Kanzel aus verbreitet wird, auch als Grundpfeiler des Himmlischen Jerusalem, wie es die Offenbarung beschreibt. Die Hauptaussage des Portals, die Verheißung der Auferstehung, zerfällt in verschiedene einzelne Textteile, die sinnvoll aufeinander bezogen und in gleicher, nunmehr räumlicher Anordnung im Langhaus umgesetzt sind. So entspricht etwa die Gewändezone mit den Figurennischen des Portals den Umfassungswänden des Langhauses. Die hinter der Säulenebene sichtbaren Nischen mit ihren von Säulchen getragenen Figuren entsprächen der Empore mit ihren gleichermaßen parataktisch angeordneten kanzelartigen Vorsprüngen: Und so würde auch die Vorstellung der Fürsten als Nachfolger der biblischen Könige räumlich zum Ausdruck kommen, denn die Herrscher besetzten eben diese erhabene Zone in den von Fenstern hinterleuchteten Wandnischen.
Darüber spannt sich der Himmel: im Portal in den Archivolten, im Langhaus im Gewölbe. Im jeweils zentralen Punkt ist der Himmel geöffnet. In der äußersten Archivolte wurde der Engel nicht im Bildraum der Archivolte eingefasst, sondern durchdringt diese und schaut als Halbfigur aus dem Himmel zum Betrachter. Im Langhausgewölbe verweist der umwölkte Ringschlussstein auf die Öffnung des Himmels. Dieses Himmelsloch verwandelte sich vermutlich bei liturgischen Spielen zu einem Bild- und Handlungsraum.
Von diesem Raumbild abgesondert ist die Anbetungsszene im Tympanon. Das Bildfeld wurde mit einem rahmenden Ornamentband eingefasst, ist damit von der übrigen Erzählstruktur abgelöst. Es erscheint als von hinten durchleuchtende Vision, als Auftakt der Vita Christi, als zugleich prophetisches wie historisches und gegenwärtiges Ereignis. Dieser Raum- und Zeitvorstellung entspricht auch die Raumsituation im Langhaus. Von Westen her sieht der Betrachter die Triumphkreuzgruppe und dahinter den Bühnen- und Bildraum des einstigen Marienchors. Der Durchblick über den Lettner, der einstigen Portalzone zum Chor, ließ den Betrachter verheißungsvoll auf den Tod Christi als Gnadenakt Gottes und die dahinterliegende künftige Erlösung und Aufnahme ins Himmelreich schauen.
3. Literatur
- Heinrich Magirius, Der Dom zu Freiberg, Lindenberg im Allgäu 2013, S. 15-23