Das Langhaus
Text: M. Rebeggiani, K. Müller
Fotos: K. Wieczorek
Visualisierungen: M. Wachsmuth, B. Ebermann, M. Leonhardt, M. Kallauke, F. Knacker, J. Maisel, R. Hinkefuß, S. Grundmann, M. Rahden, W. Gierlich
Gliederung
1. Zwei Kapitel einer Erzählung: Goldene Pforte und gotisches Langhaus
2. Bildraum
3. Prophezeiungsraum
4. Erfüllung der Verheißung
1. Zwei Kapitel einer Erzählung: Goldene Pforte und gotisches Langhaus
Das Langhaus lässt sich als konsequente Fortführung jener Erzählung betrachten, die ihren Anfang in der Goldenen Pforte nimmt. Die alttestamentliche Auslegung der Pforte kann als Vorhersage der in der Halle umgesetzten Dimensionssynthese verstanden werden. Sie wird durch die verdichtete Anordnung der alttestamentlichen Propheten angekündigt. Im Tympanon erfüllen sich schließlich die Ankündigungen der Propheten in der Gestalt der Mutter Gottes, mit der durch die Geburt des Heilands das Heil in der Welt präsent wird. Diese geht in der architektonischen Form des Langhauses auf und erhält Funktion als heilsgeschichtlicher Anfang und gleichsam als Ende.
2. Bildraum
Nach dem Durchschreiten des Westportals gelangt man in die vergleichsweise dunkle und bedrängende Vorhalle. Von dort erblickt man bereits in der Ferne die dominante Triumphkreuzgruppe des ehemaligen Lettners im Triumphbogen als Endpunkt der gesamten Komposition.
Die hohen Pfeiler, die sich beim Durchschreiten des Langhauses links und rechts des Betrachters wie mächtige rahmende Bäume nach oben erstrecken, begleiten den Betrachter bei seinem Gang bis zum Altarraum.
Er durchschreitet die Ebenen des Raumes durch einzelne Portale. Wie in einem bebilderten Buch entwickeln sich die einzelnen Erzählungen und Kapitel des Raumes. Die Jungfrauenstatuen, die an den Mittelpfeilern – rechts die törichten und links die klugen – angebracht sind, die Apostelstatuen, die die Grundpfeiler der Seitenschiffe schmücken, allerlei Epitaphe, die, befestigt an den Mauerenden, von den großen Stiftungen für den Dom zeugen, Andachtsbilder wie die beeindruckende Pietà auf der Südostseite des Langhauses, die imposante Bergmanns- und Tulpenkanzel erzählen ihre Geschichten. Der barock eingefasste, vor der Begräbniskapelle aufgestellte Altar schließt die erzählerische Betrachtung vorerst ab. Auf horizontaler Ebene wird der Raum schließlich von der umlaufenden Empore eingerahmt.
Durch die großen gotischen Fenster, die an beiden Seitenwänden die die gesamte Hallenkirche durchflutende Lichteinstrahlung erzeugen, richtet der Betrachter seinen Blick nach oben. Diese Blickbewegung wird von der farbig akzentuierten Netzgewölbestruktur aufgenommen.
3. Prophezeiungsraum
Auf dem Weg des Gläubigen zur Einheit mit Gott ist die Vorhalle als erste Station ein Besinnungsort. Die Halle ist dunkel und wirkt durch das tief angelegte und ungeordnete Gewölbe, die vielen Formwechsel und massiven Pfeiler sperrig. Sie regt zu einer Gewissenserforschung an bzw. nährt den Wunsch nach geordneten Verhältnissen, der Wahrnehmung und Befreiung vom chaotischen Zustand. Aber von dort bieten sich dem Betrachter das Heil und die göttliche Ordnung im Langhaus an. Dazu muss er den Pilgerpfad des Lebens einschlagen, der sich ihm im Mittelschiff als raumgreifende Portalsituationen eröffnet. Jedes einzelne Portal – es sind insgesamt fünf Grenzen zu überwinden – ergibt sich aus jeweils einem Pfeilerpaar. Damit wird im Abstand von jeweils drei Schlusssteinen wiederholt ein Raum für sich geschaffen. Doch sind diese Raumgrenzen nicht endgültig. Alle Pfeilerpaare scheinen so wie die Gewändesäulen der Goldenen Pforte angeordnet zu sein, wodurch sie die alte Prophezeiung in die Gegenwart holen, sie verräumlichen und vergegenwärtigen. Diese portalhaften Grenzüberschreitungen werden durch die Figuren der klugen und törichten Jungfrauen an den Pfeilern unterstützt, ein Bildprogramm, das sich üblicherweise an Portalen findet und die Möglichkeiten bzw. Verweigerung dieses Portaldurchschreitens einschließt.
So wie im Tympanon der Goldene Pforte sich die Könige der Maria mit dem Christuskind zur Anbetung hinwenden, so nähert sich im Langhaus der Gläubige der Sakrament spendenden Kirche und dem Heil an. Ihre Verheißung erfüllt sich im Gnadenakt des Opfertodes Christi – gegenwärtig in der Kreuzigungsgruppe, die gleichsam durch das geöffnete Portal als Ziel und Endpunkt des Hallenlanghauses jedem sichtbar gemacht ist.
Durch die Bewegung im Kirchenraum war es dem Gläubigen möglich, aktiv am Heilsgeschehen teilzunehmen. Die Hallenarchitektur wiederholt gewissermaßen die prophetische Aussage der Pforte und verdeutlicht dadurch, dass ein Gläubiger durch sein Handeln im Kirchenraum selbst für die Erfüllung einer neuartigen Prophezeiung verantwortlich ist und auch für andere sichtbar zum unablöslichen Teil göttlichen Wirkens wird. Während die Pforte weitestgehend ein symbolträchtiger und sinnbildlicher Raum ist, den man interpretieren und sich als Universum im Geiste vorstellen muss, präsentiert sich der Dom als realer Handlungsraum, in dem man sich einbringen und unter liturgischer Anleitung und sakramentaler Unterstützung seine eigene Erlösung miterleben und im Hier und Jetzt erwirken kann.
4. Erfüllung der Verheißung
Sobald man sich etwa in der Raummitte zwischen den Pfeilern befindet, lässt die starke longitudinale Sogwirkung etwas nach. Das weltliche Pilgern verlangsamt sich. Während die körperliche Bewegung schwächer wird, folgt die mentale, geistige Bewegung nunmehr stärker der aufwärtsfahrenden Blickrichtung zum Gewölbe hin. Dieser Effekt wird natürlich durch die schlanken Pfeilerschäfte vorbereitet und durch die starke Wirkung des Gewölbes erheblich verstärkt. Das Gewölbe erscheint eingerahmt durch die umlaufende Empore als Himmelswiese und als Angebot, in das Paradies aufzusteigen.
Wichtig ist die deutlich höhere Lichtintensität im Bereich der Kanzeln. An dieser Stelle entsteht ein neues Raumzentrum, das bewusst von den Klerikern als Ort der Predigt gewählt wurde. Dem Einfallen des Lichtes folgt gewissermaßen die Verkündigung des Wortes Gottes. Unterstützt wird diese Hinwendung bzw. Ausstreuung des Lichts wiederum durch die Parabel der an den Säulen dargestellten zehn Jungfrauen. Sie verweisen auf den geduldigen und mitunter mühevollen Weg des Christen zum königlichen Gastmahl, also zum Herantreten an den Tisch des Herrn und zur Vereinigung mit Christus in der himmlischen Stadt. Damit wird zudem die Warnung vermittelt, nicht töricht zu sein, sondern das Öl der Weisheit aufzusparen und bereitzuhalten, was wiederum durch die wohl kalkulierte Lichteinstrahlung inszeniert wird: Während die klugen Jungfrauen von Süden beschienen werden, befinden sich die törichten stets im Schatten der Pfeiler.
An den Säulen der klugen Jungfrauen entlang wandert der Blick nun langsam nach oben. Beim Erblicken des Gewölbes tritt die räumliche Allumfasstheit ins Bewusstsein. So entsteht eine vertikale Aufwärtsbewegung, die vom Gläubigen mit unmittelbarer Körperlichkeit wahrgenommen werden kann, um ihn in eine jenseitige Raumvorstellung zu entrücken. Lebendig wurde diese Bewegung nach oben einst wohl in Himmelfahrtsinszenierungen im Rahmen von Passionsspielen. Im Gewölbezentrum ist noch ein wolkenumkränzter Ringschlussstein als sog. Himmelsloch und als Öffnung des Himmels zu sehen, durch die sich Christus- oder auch Marienfiguren hochziehen und liturgisch inszeniert auffahren ließen.
Die dargestellte Verbindung zwischen Bild- und Handlungsraum synthetisiert herkömmliche Zeitkonzeptionen. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehen in einer universalen Unendlichkeit auf, die zugleich vom Anbeginn des Paradieses bis hin zur Himmelsstadt als Anfangs- und Endpunkte der Heilsgeschichte bzw. des Heilsgeschehens im Raum gegenwärtig ist. Der Hallenbereich ist somit wie eine Pforte, die dem Gläubigen Eintritt nicht nur ins Paradies, sondern zugleich in alle Raum- und Zeitebenen des Heils gewährt.