Die Tulpenkanzel
Text: F. Spaniel, S. Hille, K. Schaarschmidt
Fotos: K. Wieczorek
Visualisierungen: M. Klieber
Gliederung
1. Historisches: Domweihe, Stadtbrand, Aufbau und Ausgestaltung
2. Der hohe Predigtstuhl – die Tulpenkanzel
3. Die Kanzel als Handlungsraum
4. Zeit und Raum in Wort und Bild
5. Wer sieht wen: Der Einbau der Nordempore
6. Das Raumprogramm infolge der Reformation
7. Die Bergmannskanzel als mediale Gestalt des reformatorischen Gedankens
8. Das offene Ende der Erzählung
1. Historisches: Domweihe, Stadtbrand, Aufbau und Ausgestaltung
Nach persönlichen Bemühungen von Kurfürst Ernst von Sachsen in Rom wurde die Pfarrkirche St. Marien 1480 zur Domkirche mit Kollegiatsstift geweiht. Dies war auch von Interesse für die Freiberger Bürgerschaft und den Landadel, zu dem auch die einflussreiche Familie von Schönberg gehörte. Bauliche Veränderungen unmittelbar vor oder nach der Domweihe sind nicht genau bestimmbar, da auch der große Stadtbrand vom 19. Juni 1484 den Ausschlag für einen Neu- bzw. Umbau gegeben haben könnte. Die älteste Bauphase des Hallenlanghauses, die wohl noch keine umlaufende Empore vorsah, ist im östlichen Fassadenabschnitt der Nordumfassung sichtbar. Nach etwa 15 Jahren war die dreischiffige Halle fertiggestellt. Dabei erhielt sie auch jene hohe umlaufende, durchbrochene, steinerne Empore.
Diese folgte Vorbildern wie der Emporenanlage von St. Lorenz in Nürnberg und soll die erste ihrer Art in Obersachsen gewesen sein. Allerdings besaß schon zuvor St. Marien in Zwickau wohl eine ähnliche Empore, die bei einem späteren Chorumbau wieder entfernt wurde. Zur Neuausstattung der Freiberger Marienkirche gehörte unter anderem auch ein Predigtstuhl.
2. Der hohe Predigtstuhl – die Tulpenkanzel
Andreas Möller nennt in seiner Chronik Theatrum Freibergense Chronicum von 1653 den ‚hohen Predigtstuhl’, womit er die später als ‚Tulpenkanzel’ bezeichnete Kanzel meint. Die Aufstellung der Kanzel – freistehend in den Raum hinein – und ihre bemerkenswerte Höhe sind möglicherweise als Reaktionen auf die Höhe der umlaufenden Empore und die darauf befindliche Westempore des Fürsten zu verstehen. Das Ensemble stellte bestmögliche gegenseitige Sichtbeziehungen her.
Über den genauen Auftraggeber der Tulpenkanzel liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Ab 1505 war das Schloss Freudenstein Residenz Heinrichs des Frommen und nach der Hochzeit 1512 auch die seiner Ehefrau Katharina von Mecklenburg. Damit erhielt der Dom nun auch die Funktion einer Hofkirche, ergänzt um den zwischen 1509 und 1514 erbauten Kreuzgang und die 1514 errichtete Annenkapelle. Da die Wettiner bei der Ausstattung ihrer Bereiche großen Wert auf höchste künstlerische Qualität legten, wurden sie mit Recht als Auftraggeber der Tulpenkanzel in Erwägung gezogen. Gesicherter ist der Zeitpunkt der Entstehung der Kanzel. Dieser wird von der Forschung mehrheitlich auf um 1505 datiert. Somit gehören die Kanzel wie auch der Kreuzgang und die Annenkapelle noch vollständig in die vorreformatorische Zeit.
Die Kanzel besteht bis auf den hölzernen Deckel aus einer Varietät des Hilbersdorfer Porphyrtuffs, der in der Nähe von Chemnitz abgebaut wurde. Als für die Herstellung verantwortlicher Künstler wurde Meister HW wahrscheinlich gemacht. Bereits in der Chronik von Andreas Möller ist vermerkt, dass von dem hohen Predigtstuhl nur des Sonntags und an kirchlichen Feiertagen gepredigt wurde. Alltags und im Rahmen der Leichenbegängnisse hingegen wurde von einem damals zusätzlich vorhandenen etwas niedrigeren hölzernen Stuhl gepredigt. An Sonn- und Feiertagen, den Gedenktagen der Heiligen, zu Patronatsfesten und im Advent war der Prediger verpflichtet, je eine Predigt in deutscher Sprache zu halten, an den Marienfesten sogar zwei. Während der Predigt stellten sich die Leute um die Kanzel herum auf. Eine feste Bestuhlung war zu dieser Zeit noch nicht vorhanden.
3. Die Kanzel als Handlungsraum
Da die Tulpenkanzel frei im Raum steht, kann sie der Dombesucher umschreiten, von allen Seiten betrachten und so mit dem Bildwerk in Interaktion treten. Der Allansichtigkeit des Kunstwerks steht allerdings die mediale Ausrichtung des Predigtstuhls entgegen. Aus diesem Grund vertreiben die Löwen mit ihrer aggressiv ausgerichteten Blick- und Interaktionsrichtung die Betrachter von der Rückseite und zwingen sie in eine andere Position innerhalb des Bild- und Handlungsraums.
Die Hauptinteraktion kommt dem Prediger zu: Dieser tritt zunächst durch das aus Baumstämmen gebildete Tor als Bild-Raum-Grenze direkt in den Handlungsraum des Bildwerkes ein. Dabei wechselt er, vom Raum ins Bild, von der irdischen Rolle eines geistlichen Gemeindemitglieds in die ikonische Rolle des Vertreters Gottes und Verkünder des Wortes Gottes auf der Kanzel.
In dem Moment, in dem der Prediger die 17stufige Wendeltreppe hinaufsteigt, betritt er einen aus Pflanzen gemachten Handlungsraum – das Bild wird durch ihn lebendig und mit ihm die anderen Lebewesen. Beim Aufstieg in den Kanzelkorb begegnen ihm ein großer und ein kleiner Hund, die ihn wohl an die Treue zu Gott und zum Wort erinnern sollen. Überdies sieht er einen sitzenden, lauschenden Mann und einen Jüngling, der auf einem Baum sitzt und auf seinem Rücken die Treppe zur Kanzel trägt. Seine tragende Haltung zeigt ebenso wie das augenscheinliche Erblühen der Kanzelblume den flüchtigen, verlebendigten und bedeutsamen Moment der Bildaktivität an.
Für alle genannten Figuren liegt bis heute keine schlüssige Deutung vor. In der ersten bekannten Erwähnung, in jener Chronik Andreas Möllers, werden die beiden Figuren Meister und Geselle genannt. Später wurde die Szenerie aufgrund der Löwen auch mit der Danielslegende in Zusammenhang gebracht. Auch die Vorstellungen von vita activa und vita contemplativa werden den beiden Figuren häufig zugeordnet.
Die Treppe führt den Prediger schließlich zum Kanzelkorb, der aus dem Kelch einer großen Pflanze, einer kolossalen Tulipane gebildet wird, die mit mariologischen Symbolen ausgestattet ist. Mariologische Pflanzen verweisen meist auf den hortus conclusus, den umschlossenen Garten Mariens, wie er im Dom auch in der Deckenausmalung des Kreuzganges und des Langhauses wiedererscheint. Unter dem Kanzelkorb befindet sich ein Kranz aus Weintrauben, der auf die Passion hindeutet. Zwischen den Pflanzenteilen auf der mittleren Ebene bilden vier Engel einen Reigen. Im Mittelalter wird bei der Darstellung von Engelreigen meist auf Paradiesisches verwiesen. In ihrer tanzenden Bewegung führen sie den Betrachter zur Westseite des Bildwerks hin, um ihm letztlich einen Ort im Gegenüber zum lauschenden Mann zuzuweisen, um sich dort ebenfalls zum Erleben, zum Hören und Sehen der Predigt einzufinden.
Als Krönung und Blüte der Pflanze befinden sich auf dem Schalldeckel Maria mit dem Strahlenkranz und das Christuskind, das eine Weintraube in der Hand hält, unter ihnen mit einem Spruchband die Symbole der vier Evangelisten: Löwe, Stier, Greifvogel und Engel. An der Unterseite des Kanzeldeckels befindet sich eine plastisch gebildete Rose und eine lateinische Aufschrift, die bedeutet: ’Gehet hin in alle Welt und predigt das Evangelium aller Kreatur.’
4. Zeit und Raum in Wort und Bild
Im Kanzelkorb angekommen, wird der Prediger vom Licht angestrahlt, das durch die Fenster der Südseite einfällt. Dadurch wird die Emanation, die Ausstrahlung des erhabenen allmächtigen Gottes über mehrere Stufen hin versinnbildlicht. In der Rolle des Mittlers gibt der Prediger die zu verkündende Botschaft und Lehre an die Gemeinde weiter. Dabei steht er im Kanzelkorb, dessen Außenseite die Abbilder der vier Kirchenväter schmücken: Ambrosius, Bischof von Mailand (gest. 397), Hieronymus, der die Bibel übersetzt hat und als Kardinal dargestellt ist (gest.420), der einflussreiche Kirchenlehrer Augustinus (gest. 430) und Papst Gregor der Große (gest. 604). Auf der Kanzel wird der Prediger als Brustfigur sichtbar und reiht sich daher formal und medial in die Reihe der Kirchenväter ein, die als Autoritäten der Wortauslegung galten und oftmals zum Bildprogramm der Kanzeln gehören. Ihre Kommentare zum Bibelwort bilden im Mittelalter die Grundlage der kirchlichen Lehre. Zudem demonstriert die erhöhte Position des Predigers den Stellenwert des göttlichen Wortes. Der Prediger vereint im Moment der Predigt Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Mit dem Verweis auf das kommende Heil und die Erlösung nimmt der Prediger das Ende der Erzählung im Wort vorweg.
Im Gegensatz dazu ist das gesprochene Wort fragil, ebenso wie einige Elemente des Handlungsraumes: das Blühen der Pflanze, die Bewegung der Engel, das Tragen der Treppe. Erst im Moment der Benutzung, im Akt der Predigt wird diese Fragilität zur Agilität – im Sinne einer Konzentration auf das Momentane, das gegenwärtig Passierende – und als aktive Vereinigung von Bild, Raum und Zeit wirksam.
5. Wer sieht wen: Der Einbau der Nordempore
Bereits 1536 berief das der neuen Lehre zugeneigte Fürstenpaar einen lutherischen Prediger und besetzte damit die Tulpenkanzel neu, woraufhin die Neuauslegung und reformatorische Verkündigung der Schrift im Freiberger Dom begann. Darauf erfolgte 1537 im Norden der Einbau einer großen Fürstenempore gegenüber der und in gleicher Höhe wie die Tulpenkanzel. Ihre steinernen Bögen spannten sich zwischen zwei Wand- und zwei Freipfeiler, sodass die Empore ein ganzes Seitenschiffjoch ausspannte.
Der zuvor auf der Westempore der Blickrichtung der Gemeinde verborgene Fürst trat nun aus seinem privaten Raum heraus und als Akteur in das öffentliche Bildprogramm des Kirchenraumes und somit aktiv in die Handlung ein. Kanzelkorb und Fürstenempore befanden sich wohl auf der derselben Ebene, wodurch zunächst die Gleichberechtigung von weltlicher und kirchlicher Macht demonstriert wurde. Zugleich entstand für die Gemeinde aus Kanzel und Empore eine gut sichtbare prägnante Bühne mit zwei Szenerien. Hier sind zum ersten Mal Sichtbeziehungen entstanden, die sämtliche Gottesdiensteilnehmer im gegenseitigen Blickfeld erscheinen ließen. Die so in den Kirchenraum hineingebaute Fürstenempore verstellte allerdings den Blick auf den Hochaltar bzw. minderte so dessen Wirkung und Bedeutung. Mit der sich nun ergebenen Ausrichtung der Kanzel auf die Empore wurde der Fürst zum privilegierten Adressaten der lutherischen Predigt und – indem er sie befolgte – zur Leitfigur für die Gemeinde. Vor seinem eigenen erhabenen Altar, der sich ebenfalls auf der Nordempore befand, zeigte das Fürstenpaar auf dieser Bühne gut sichtbar an, wie das Abendmahl in beiderlei Gestalt zu empfangen sei. Er führte die liturgischen Handlungen der neuen lutherischen Lehre vor, um sie so der Gemeinde nahe zu bringen und auf diese Weise durchzusetzen.
Seit 1728 befindet sich die heute noch vorhandene Barockempore etwa an Stelle der einstigen bühnenartigen Nordempore.
6. Das Raumprogramm infolge der Reformation
Auf seiner Fürstenempore im Norden präsentierte sich Heinrich als Haupt der Gemeinde. Mit der reformatorischen Lehre kam es zur Entwertung etlicher Sakramente. Der Zugang der Gläubigen zum Wort Gottes und zum Heil wurde unmittelbarer, damit die Bedeutung der Geistlichkeit entsprechend geringer. Ein neues Dreigestirn aus dem Wort Gottes, dem Leib Christi und den Gläubigen entstand, die Geistlichen übernahmen als Amtspersonen und Sakramentsverwalter lediglich noch dienende Funktionen. Der Ostchor hinter dem hohen Kreuzaltar wurde bedeutungslos. Der Hochaltar und viele Seitenaltäre verschwanden, der einstige Ostchor erhielt eine neue Bestimmung. Er wurde zur dynastischen Grablege der Wettiner und damit zum Memorialort für das neue fürstliche Kirchenoberhaupt.
7. Die Bergmannskanzel als mediale Gestalt des reformatorischen Gedankens
In der Zeit nach der Reformation fand die neue Lehre medial auch Ausdruck im veränderten Bildprogramm des Kirchenraumes. So stiftete 100 Jahre nach Einführung der Reformation der Bürgermeister Jonas Schönleben dem Dom eine neue Kanzel, weil die niedrige hölzerne inzwischen alt und unscheinbar geworden war. Der neue Predigtstuhl wurde wie die Tulpenkanzel ganz aus Stein gefertigt, neben dieser an einen Pfeiler geheftet und am 16. Juli 1638 geweiht. Der lutherischen Lehre entsprechend bezog sich das Bildprogramm an Kanzelaufgang, Kanzelkorb und Schalldeckel auf die Passion und Auferstehung Christi. Die heute gebräuchliche Bezeichnung Bergmannskanzel ist von den Bergmannsfiguren, die Kanzeltreppe und Kanzelkorb tragen, abgeleitet. Die Erschaffung dieser Kanzel ist Zeugnis der protestantischen Lehre. An die Stelle des hohen Kreuzaltars wurde 1560 ein neues Altarbild, auf dem die fürstliche Familie beim Empfang des Abendmahles abgebildet ist, aufgehängt. Dieses Bild ist gewissermaßen als ein auf Dauer gestelltes Abbild einer ähnlichen Szenerie zwischen fürstlicher Nordempore und Tulpenkanzel unter dem Triumphkreuz zu verstehen. Das Bürgermeisterpaar zeigt sich an der Bergmannskanzel einer größeren Öffentlichkeit in Anbetung des Kreuzes, des sterbenden Christus.
8. Das offene Ende der Erzählung
Innerhalb der großen Kirchenraumerzählung nehmen die Kanzeln in Bild und Wort eine besondere Stellung ein. Während die Bildelemente dauerhaft und im Raum wiederkehrend sind, ist das gesprochene Wort flüchtig und bedarf regelmäßiger Erneuerung. Besonders die Tulpenkanzel bildet dabei eine lebendige Binnenerzählung innerhalb des Kirchenraumes. Denn hier werden die Grenzen des Bildprogrammes durch die Löwen nach außen erweitert und so der Betrachter integriert, während der Prediger selbst von außen direkt in das Bildwerk eintritt und sich auf den Weg zum Ort der heilsgeschichtlichen Verkündigung macht. Wie die Tulpenkanzel den Betrachter einschließt, ist der Dombesucher selbst in den Kirchenraum eingetreten, um die Erzählung zu lesen. Doch ist es nicht nur die Abbildung einer historischen Entwicklung, sondern gottesdienstlich gebrauchter Ort. Vom Fürsten ist nur das Abbild geblieben, die Barockempore funktionslos geworden, die Gemeinde aber ist lebendig.
Heute wird von der Tulpenkanzel an den Feiertagen und von der Bergmannskanzel an den Sonntagen gepredigt, dabei sieht die Gemeinde den Prediger, hört ihn das Wort verkünden und schaut zugleich auf das Kreuz am Altar. Errichtet vor Jahrhunderten als Zeugnisse unterschiedlicher Ansichten über den Weg zum Heil, verkörpern die Kanzeln in der Gegenwart in ihrem Nebeneinander und Gebrauch den ökumenischen Gedanken.